Die grösste Wirtschaftskraft Europas ist eng mit China verflochten, doch es mangelt an fundiertem Wissen über das Reich der Mitte. Hilft eine China-Strategie wirklich?
Katrin Büchenbacher, Philipp Wolf
Seit Monaten ringt die deutsche Regierung um eine China-Strategie. Kanzler Olaf Scholz von der SPD will einen pragmatischen Kurs einschlagen. Das Aussenamt unter der grünen Ministerin Annalena Baerbock hingegen will den Ton gegenüber China verschärfen.
Dabei war sich die Ampelkoalition von SPD, FDP und Grünen zumindest in einem Punkt einmal einig: «Asien- und China-Kompetenz wollen wir deutlich ausbauen», steht im Koalitionsvertrag von 2021. Doch bisher ist es beim guten Vorsatz geblieben. Und das, obwohl dort der Kern des Problems liegt: Deutschland hat sich vom Handel mit China abhängig gemacht, ohne sich grundlegend mit dem Land, seinem politischen System sowie seiner Sprache zu befassen.
China ist Nummer eins
Deutschlands wichtigste Handelspartner, Warenhandel 2022 in Milliarden Euro
Umsatz*
Export
Import
* Export + Import
Quelle: Statistisches Bundesamt
NZZ / phw.
In essenziellen Punkten hat die China-Kompetenz in Deutschland über die Jahre sogar nachgelassen. So gibt es heute kaum mehr deutsche Muttersprachler, die Chinesisch - Deutsch dolmetschen können. In der Politik fehlt es ebenfalls an Expertise.
Die Sinologin Marina Rudyak von der Universität Heidelberg sagt dazu: «Ein resilienter Umgang mit China setzt maximale Informiertheit und Kontextwissen voraus. Beides ist in Bundesregierung und Bundestag kaum vorhanden.» Sie sagt warnend: «Im Vergleich zu anderen Ländern, die ähnlich relevant sind, wissen wir einfach viel weniger über China.»
Deutschland - China: Die Verunsicherung ist gross
Dass die deutsche Regierung der politischen Realität in China zu wenig Beachtung schenkt, zeigt der Besuch von Bundeskanzler Scholz beim chinesischen Staatschef Xi Jinping von Anfang November. Der Zeitpunkt, den Scholz für seine Reise gewählt hatte, hätte für Xi kaum bedeutender sein können: Xi hatte sich weniger als zwei Wochen zuvor vom Parteitag für eine dritte Amtszeit als Generalsekretär der Kommunistischen Partei bestätigen lassen. Eine Machtausdehnung, die es seit Mao Zedong nicht mehr gegeben hatte.
Für Xi war Scholz’ Besuch so kurz nach seiner «Wiederwahl» ein Propagandasieg. China und Deutschland sollten näher zusammenrücken, sagte Xi. Scholz war mit einer zwölfköpfigen Wirtschaftsdelegation angereist. Seine oberste Priorität: Das Geschäft muss weiterlaufen. Business as usual für Volkswagen, BASF, Siemens. Schliesslich ist China seit sieben Jahren Deutschlands wichtigster Handelspartner. Tragende Branchen der deutschen Wirtschaft wie Chemie und Automobil erzielen ein Grossteil ihres Umsatzes in China. Zu Hause schwappte Scholz eine Welle der Kritik entgegen.
Dass Scholz’ China-Reise eine so grundsätzliche Debatte auslöste, liegt am unmöglichen Spagat, der von der Politik in Bezug auf China erwartet wird. China sei zugleich Partner, Konkurrent sowie Systemrivale, heisst es in der China-Strategie der EU. Die Regierung von Olaf Scholz hat diese Formel übernommen. Dabei liegt ihr ein fundamentaler Widerspruch zugrunde: Ein Land kann kein verlässlicher Partner sein, wenn man ihm als Systemrivalen misstraut. Und so offenbart der Dreiklang viel mehr über die grosse Verunsicherung und Uneinigkeit der europäischen Länder im Umgang mit China, als dass er etwas über China aussagt.
Zumindest scheint es so etwas wie einen kleinsten gemeinsamer Nenner zu geben: Seit der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas offengelegt hat, sind die Schlagworte «de-risking» und «Diversifizierung» im Umgang mit China omnipräsent. Geändert hat sich wenig. Unternehmen wie BASF oder Volkswagen investieren weiter Milliarden Euro in China.
Die geheimen China-Papiere der Grünen
Mitte November, wenige Wochen nach Scholz’ China-Besuch, folgte der Eklat: Ein Entwurf der China-Strategie aus Baerbocks Aussenamt gelangte an die Öffentlichkeit. Von Menschenrechten war die Rede, die eine stärkere Rolle spielen sollen in den Beziehungen zwischen Deutschland und China. Von dem Plan, enger mit der Inselrepublik Taiwan zusammenzuarbeiten.
Die chinesische Botschaft in Berlin protestierte sofort. Die Art und Weise, wie China in dem Strategiepapier dargestellt werde, sei Verunglimpfung. Es ist offensichtlich, warum sich Chinas Regierungsvertreter so vehement gegen einen schärferen Ton in Deutschland gegenüber China wehren. Berlins Umgang mit China hat Signalwirkung für ganz Europa, schliesslich ist Deutschland die grösste Volkswirtschaft der EU.
Doch schon im Dezember kam das nächste Leak, dieses Mal aus dem ebenfalls grün geführten Wirtschaftsministerium unter Robert Habeck. Ein internes Positionspapier zu China, das es in sich hatte. Der Anhang enthielt offenbar eine Art Wörterbuch. Darin standen Begriffe, die von chinesischen Verhandlungsteilnehmern genannt werden, und ihre tatsächliche Bedeutung. Der Journalist, der das Papier eingesehen hatte, sagte dazu in der Fernsehsendung «Markus Lanz»: «Man kann wirklich lesen, wie wir von China in Verhandlungen über den Tisch gezogen werden.»
Nur noch zehn Dolmetscher in ganz Deutschland
Dass es immer wieder zu Missverständnissen kommt, scheint ein Grundproblem in den deutschen Verhandlungen mit China zu sein. Der Grossteil der Kommunikation findet auf Englisch statt. Denn es gibt nur noch wenige Chinesisch-Dolmetscher im deutschsprachigen Raum. Der deutsche Verband der Konferenzdolmetscher führt zwei als «Senior» anerkannte Dolmetscher auf und acht mit Junior-Status. Nachwuchs rückt wohl nicht nach, denn in Deutschland gibt es keine öffentliche Institution mehr, die Chinesisch-Dolmetscher ausbildet.
Die meisten Dolmetscher stammen tatsächlich aus China. Das kann zu Loyalitätskonflikten führen: «Im Zweifelsfall übersetzen sie so, wie die chinesische Seite das möchte», sagt Andreas Guder, der dem deutschen Fachverband Chinesisch vorsteht. Er sagt, es gebe auf europäischer Seite viele Berührungsängste mit der Sprache Chinesisch. «Es herrscht bei uns die Vorstellung, dass nur Chinesen Chinesisch können. Doch damit geben wir die entscheidende Kompetenz aus der Hand, was wiederum ein Risiko für Deutschland und Europa darstellt.»
Guder vergleicht Deutschland mit Frankreich, Italien oder Grossbritannien, wo Chinesisch als Schulfach seit Jahrzehnten von staatlicher Seite gefördert wird. In Deutschland führe der Bildungsföderalismus dazu, dass die wenigen Fachleute für Chinesisch sich auf 16 Bundesländer verteilten.
Deshalb hat der Fachverband Chinesisch die Gründung einer Bundesakademie für aussereuropäische Fremdsprachen vorgeschlagen, die unter anderem bilingual aufgewachsene Personen fördern soll. «Wir sind gespannt, ob sich dieser Vorschlag in der lange erwarteten China-Strategie der Bundesregierung niederschlägt», sagt Guder.
Die Sinologin Rudyak fordert derweil, dass die Anzahl China-Lehrstühle an den deutschen Universitäten erhöht wird. Es gebe derzeit unzählige Professuren, die sich mit der EU oder den USA befassen, aber lächerlich wenige mit dem Fokus China: Von den über 50000 Professuren in Deutschland sind es nur um die 50, davon knapp 30 zum gegenwärtigen China.
Plötzlich chinakritisch: Die Union vollzieht eine Kehrtwende
Mitte April schliesslich reiste Baerbock nach China, unter ganz anderen Vorzeichen als Scholz im November. Wenige Tage vor Baerbock waren die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen und der französische Präsident Emmanuel Macron bei Xi zu Besuch. Auf dem Rückflug gab Macron ein denkwürdiges Interview, zeigte viel Verständnis für die chinesischen Befindlichkeiten und löste damit bei den Amerikanern und Europäern gleichermassen Irritation aus.
Baerbock indes vertrat in China eine Haltung, die mehr dem europäischen Mainstream entspricht. Sie kritisierte Pekings Verhalten in der Ukraine-Krise und in der Taiwan-Strasse. Sie prangerte Chinas Verletzung von Menschenrechten an. Gleichzeitig setzte sich Baerbock für deutsche Firmen ein.
Währenddessen nahm die Intensität der China-Debatte in Deutschland zu. In den Tagen rund um Baerbocks China-Reise veröffentlichen der konservative Seeheimer Kreis der SPD sowie die Union Strategiepapiere zu China. Das SPD-Papier forderte mehr Pragmatismus im Umgang mit dem Land. Das Dokument der Union forderte ein China-Kompetenzzentrum und eine deutschlandweite Stärkung der China-Kompetenz. Die FDP, die ihr Papier bereits im Februar veröffentlicht hatte, fordert ebenfalls eine vertiefte China-Kompetenz.
Die Parteien hatten sich zwar bereits im vergangenen Wahlkampf mit China befasst. Doch nach Russlands Überfall auf die Ukraine haben sie ihre Positionen nochmals angepasst. Barbara Pongratz, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Mercator Institute for China Studies in Berlin (Merics), sagt, aus den Parteipapieren werde ersichtlich, dass sich die Wahrnehmung Chinas innerhalb des Dreiklangs «Partner - Wettbewerber - systemischer Rivale» mittlerweile mehr in Richtung Wettbewerber und systemischer Rivale verschoben habe.
Besonders deutlich sei der Haltungswechsel bei der Union. «Das Papier der CDU/CSU stellt einen deutlichen Bruch mit der Merkel-Linie dar», sagt Pongratz. Unter Merkel hatte die Union einen wirtschaftspragmatischen Kurs verfolgt. Heute ist sie die einzige Bundestagsfraktion mit einer China-Arbeitsgruppe, geleitet wird sie vom Fraktions- und Parteivorsitzenden Friedrich Merz.
«Bundestag hat sich nicht umfassend mit China befasst»
Die Forderung der Union nach einem China-Kompetenzzentrum kommt wenig überraschend. Ein solches gibt es nämlich im Bundestag nicht. Die Abgeordneten können zwar auf den wissenschaftlichen Dienst zugreifen, doch dort sei nur «punktuell» China-Kompetenz vorhanden, sagt eine Sprecherin des Bundestags auf Anfrage.
In anderen Parlamenten ist das längst anders. Britische, australische oder niederländische Abgeordnete haben speziell dafür eingerichtete Sekretariate mit China-Experten oder unabhängige Expertennetzwerke zur Verfügung. Deutsche Parlamentarier wenden sich für China-Expertise stattdessen meistens an ihre parteinahe Stiftung, aussenpolitische Denkfabriken oder vertrauen auf persönliche Kontakte. Das birgt das Risiko, dass sie sich auf interessengeleitete oder unzuverlässige Informationen stützen.
Pongratz, Mitautorin einer Studie zur China-Politik im Bundestag, sagt: «Der Bundestag hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weder umfassend noch strategisch mit China befasst.» Im Rahmen der China-Strategie beschäftige man sich in Deutschland zum ersten Mal damit, China-Politik vorausschauend und strategisch zu betreiben.
China-Strategie droht, blosses Lippenbekenntnis zu bleiben
Wann also kommt jetzt diese China-Strategie? Für den 20.Juni sind zwischen Deutschland und China Regierungskonsultationen angesetzt. Bundeskanzler Scholz hat den chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang zu Gesprächen nach Berlin eingeladen, führende Regierungsmitglieder beider Seiten werden zusammentreffen.
Geht es nach Aussenministerin Baerbock und den Grünen, soll die deutsche China-Strategie davor veröffentlicht werden. Geht es nach Scholz und dem Kanzleramt, soll die Strategie nach den Regierungskonsultationen präsentiert werden. Und erst soll die grosse Sicherheitsstrategie der Regierung kommen, dann die China-Strategie. Erstere sollte zumindest bald kommen. Ein Regierungssprecher sagte vergangene Woche, die Sicherheitsstrategie befinde sich «in den letzten Zügen».
Doch auch mit einer China-Strategie bleibt Deutschlands China-Problem bestehen. Selbst wenn sich die Regierungsparteien in bestimmten Punkten einigen können – mehr Diversifizierung, mehr Kompetenz – müssen diese Vorhaben erst einmal umgesetzt werden. Denn Diversifizierung ist aufwendig, ein Kompetenzzentrum kostet. Die Sinologin Rudyak sagt: «Niemand fühlt sich dafür zuständig, etwas zu verändern.»
Das zeigt ebenfalls folgendes Beispiel: Kürzlich nahm der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, der SPD-Politiker Michael Roth, an einer Veranstaltung zu der Frage teil, wie Deutschland mit China umgehen solle. Auf die Notwendigkeit eines Kompetenzausbaus an deutschen Bildungseinrichtungen angesprochen, sagte Roth: «Das fällt in die Hoheit der Bundesländer.»
Und so bleibt die China-Debatte ein deutsches Selbstgespräch. Und Deutschland von mehr China-Kompetenz so weit entfernt wie Berlin von Peking.
Passend zum Artikel
Dalia Marin
René Höltschi, Berlin, Michael Rasch, Frankfurt
Rewert Hoffer, Berlin